Fünfzehn Jahre bin ich auf der Insel geblieben, meine wahre Identität habe ich bis heute nicht preisgegeben.
Das unfertige Manuskript des Romans, den ich in meinem ersten Sommer auf der Insel fertigstellen wollte, liegt in der Schublade dieses Schreibtisches hier. Der Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze, um das letzte Kapitel meiner eigenen Geschichte zu schreiben. Ich bin seit einiger Zeit zurück auf dem Festland, wo ich den Termin für meine nächste Operation abwarte.
Ob ich es jemals wieder auf die Insel schaffen werde?
Das ist das letzte Kapitel der Geschichte von Susan Brandy.
Die Volanter:innen bedanken sich bei Susan Brandy für diese wunderbare Geschichte.
Zwei Jahre nach meiner Ankunft auf der Insel begann ich anhand meiner Notizen, den Tagebüchern und den kurzen Texten, die ich zu den Bildern des Alten verfasst hatte, eine Geschichte zu verfassen: die Geschichte der fliegenden Insel.
Die Arbeit am Katalog des Alten hatte ich fertiggestellt. Er
umfasste 52 Bilder und Texte. Ich hatte eine kleine Auflage davon produzieren lassen, welche nun im Bücherladen der Insel zu kaufen war. Den Bewohnern hatte ich ein Exemplar geschenkt.
Das angefangene Manuskript lag auf der Kiste, in der ich die Tagebücher des Alten aufbewahrte. Als ich an einem regnerischen Morgen Ende Dezember erneut danach griff, gab auch der Widerstand gegenüber den Tagebüchern nach. Ich legte das Manuskript zur Seite, holte eines der Bücher hervor, schlug es vorne auf und begann zu lesen.
Nach dem ersten Drittel legte ich das Buch auf den Boden und holte das nächste hervor. So las ich kreuz und quer durch mehrere Bücher, ausgehungert nach seinen Erzählungen und realisierte, dass ich mich in jeder seiner Geschichten wiederfand.
Ich fühlte mich wohl in meiner neuen Routine. Die langen Spaziergänge mit Bello, die regelmässigen Besuche des Hafen-Cafés, die Ausfahrten mit dem Boot zum Leuchtturm, – wenn der Nordwind sie zulassen sollte – und die Arbeit am Katalog. Ich begann, mich mit der Insel und ihren Bewohnern zu verbinden, sie waren mein neues Zuhause geworden.
Und auch wenn ich unbewusst auf einen weiteren Schicksalsschlag zu warten schien, verspürte ich diese neuen, kurzen Momente des Glücks.
Die Albträume wurden weniger. Wenn mich trotzdem einer mit rasendem Herzen aus dem Schlaf schreckte, blieb ich lange im Dunkeln sitzen und hörte dem Hund zu, der in seinen Träumen oft leise winselte.
Meine Gedanken wurden klarer, doch die Flecken auf meinem Gedächtnis waren geblieben. Genauso wie der Sog, der von den Tagebüchern des Alten ausging, die in der Kiste im Atelier lagen.
Bello begleitete mich auf meinen Streifzügen über die Insel und auf dem Ozean. Ich gewöhnte ihn an das Boot und nahm ihn mit, wenn ich zum Leuchtturm fuhr.
Bei der Frau des Bücherladens bestellte ich zwei Hunde-Ratgeber und versuchte mein Bestes mit dem Tier, was mir zu gelingen schien. Wenn ich die Bilder des Alten katalogisierte oder meine Notizen schrieb, lag er mir zu Füssen und döste.
Er freundete sich mit Lola und den zwei anderen Schafen an. Doch wenn ich ihn nicht im Auge hatte, jagte er sie mit freudigem Gebell aus dem Stall und trieb sie auf der Weide vor sich hin.
Ich war ihm zum ersten Mal kurz nach seiner Geburt begegnet, als er noch ein hilfloser Welpe war. Bello war der schwächelnde Zweite, den die Hündin des Schafbauern im Sommer geboren hatte.
Früher hatte ich mir oft einen Hund gewünscht, mich aber stets vor der Verantwortung gescheut. Als mich der Schafbauer jedoch vor wenigen Wochen fragte, ob ich das Tier aufnehmen möchte, sagte ich ohne zu zögern ja und richtete dem Hund einen Schlafplatz vor dem Kamin ein. Im Sommer würde er draussen bei den Schafen bleiben.
Die Insel war den Winterstürmen untertan geworden – die Fähre fuhr nur noch jeden zweiten Tag und brachte wenige Besucher mit. So legte sich, wenn der Nordwind die Wellen nicht über die Klippen schlagen liess, eine ungewohnte Stille über den Ort. Bei Ebbe zog sich das Meer weit zurück: Die Fischerboote lagen für Stunden auf dem Trockenen, bevor die Flut sie wieder aufhob.
Ich spürte seine Angst, dass ich der Insel im Winter nicht gewachsen sein könnte. Nur fürchtete ich mich weder vor den Stürmen, welche die Schafe in das warme Dunkel des Stalles trieben, noch vor der Stille.
Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, das Haus des Alten noch nicht zu verkaufen, dachte ich über mein eigenes auf dem anderen Kontinent nach und freundete mich mit der Vorstellung an, auf unbestimmte Zeit auf der Insel zu bleiben.
Natürlich vermisste ich meine Freunde, doch hatten wir schon immer nur wenig persönlichen Kontakt zueinander gepflegt. Wir schrieben uns und würden es auch weiterhin tun. Ich spürte, dass es mir nicht schwerfallen würde, mein mir fremd gewordenes Leben in der Ferne loszulassen.
Seit ich auf der Insel war, hatte sich vieles verändert. Ich hatte mir eine neue Realität erschaffen – eine, die mir gefiel.
Im November enthielt mein Manuskript bereits 43 Bilder und 43 Texte. Jeden Tag sass ich im Atelier und schrieb. Zu Beginn meiner Arbeit hatte ich die Bilder des Alten nach deren Datum in den Katalog aufgenommen. Doch dann begann ich sie so zu wählen, dass die Geschichten, die ich dazu erfand, einen Zusammenhang erhielten. Viele seiner Werke zeigten dieselben Sujets: die vielfältigen Landschaften der Insel, Fräulein Mö oder die Fischerboote im Ozean. Doch er hatte auch die Menschen gemalt.
Ich fand zurück in meinen Schreibfluss, auf den ich lange gewartet hatte.