Er erinnerte. Den Baum, den er fällte. Das Lied der Amsel, das verstummte.
„… und selbst der Tod horchte und sagte: „Fahre fort, kleine Nachtigall! Fahre fort!“ […] Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte, wie ein kalter, weißer Nebel, aus dem Fenster …“
In den Armen des Meerwesens geborgen fand der alte Mann sich am Grund des Meeres wieder. Seltsam. Eigentlich müsste es stockfinster sein. Doch drang von der Wasseroberfläche das Spiel der Sonnenstrahlen bis zu ihm hinab, lief, vom Gang der Wellen gebrochen, in hell wabernden Linien über ihn hinweg.
Die Dünung. Spürst du sie noch? Umgeben von all den rechten Winkeln – um dich, um die Bilder, um die Welten aus Geist, Fleisch und Blut, trägt ihr ewiges Auf und Ab das deine. Dich darin geborgen in einer Nussschale. Leben. Nicht irgendeines – deines. Auf dem Grund des Meeres.
Bernstein. Ein Stück Wald aus der Tiefe des Meeres wieder aufgestiegen zum Licht. Licht. Licht flutet den langen, geräumigen Gang, den du durchschreitest, Bilder betrachtend. Auch sie stiegen auf zu Licht, Farbe und Kontur. Ebbe und Flut schöpferischen Denkens. Ein Mensch, eine Welt.
Vom Sandstein der alten Gebirge erzählte der Mann dem Meerwesen und den versteinerten Muscheln, die man dort im Schatten der Wälder finden konnte. Und dem Bernstein, der einst in Wäldern als Harz entstanden, dann vom Meer geflutet und mit der Dünung der Erdkruste wieder zu einem bewaldeten Berg aufgeschoben worden war.
„Dann ist das Land auch nichts weiter als ein Meer?“
„Ja. Die Dünung ist eine langsame und lässt sich viel Zeit. Doch eigentlich ist die Erde eher ein Meer aus glühendem Gestein, als dass sie fest und unbeweglich wäre.“
„… Sie kannte keine größere Freude, als von der Menschenwelt über ihr zu hören, die alte Großmutter musste ihr alles erzählen, was sie wusste von den Schiffen und Städten, Menschen und Tieren. Ganz besonders wunderbar und herrlich erschien es ihr, dass oben auf der Erde die Blumen dufteten, denn das taten sie auf dem Meeresboden nicht, und dass die Wälder grün waren und die Fische, die man dort auf den Zweigen sieht, so laut und lieblich singen konnten, dass es eine Lust war. Es waren die kleinen Vögel, die die Großmutter Fische nannte, denn sonst hätten es die Kinder nicht verstehen können, da sie nie einen Vogel gesehen hatten. …“
Der Alte hatte ein kleines Buch aus seiner Jackentasche gezogen und las dem Meerwesen daraus vor. Es verwunderte ihn nicht weiter, dass er eigentlich schon längst ertrunken und tot hätte sein sollen. Vielleicht war er das auch und der Tod war tatsächlich nichts weiter als der Schritt in ein anderes Leben, eine andere Welt. Vielleicht aber auch träumte er das alles nur und würde irgendwann aufwachen und sich verwundert die Augen reiben. Das Meerwesen wartete ungeduldig auf die Geschichte vom Meer unter den Wäldern. Er konnte es glucksen hören. Gerade so, wie er es vernommen hatte, als er noch im Boot gesessen hatte und dem Meer von seinem Boot aus vorlas.
Das Meerwesen legte seinen Arm um den Alten und zog ihn hinab zum Meeresgrund, tiefer und tiefer. Das Tageslicht reichte nicht hierher, doch von dem seltsamen Paar ging ein Leuchten aus, das alles ringsum erhellte. Sie gelangten an eine Stelle, an der ringsum dunkle bis hellgelbe Steinchen aus dem Schlamm heraus zur Wasseroberfläche stiegen.
„Bernstein.“
Der alte Mann erkannte, was das blassblaue Wesen mit dem Sonnenlicht längst vergangener Tage gemeint hatte, das hier aufstieg wie gen Himmel geweinte Tränen. Nicht ein einziger Baum war zu sehen.
„Siehst du den Wald?“
„Ich kann ihn ahnen.“
„Vor vielen Millionen Jahren muss er ertrunken sein und jetzt gehört er zu mir.“
„So wie du zu den Wäldern gehörst, die sich heute an Land im Wind wiegen.“
„Ja?“
„Mhm.“
„Auch ich wiege mich gerne im Wind. Aber dass ich zu den Wäldern gehören soll …“
Du siehst kein Meerwesen. Was du siehst, könnte ebenso gut ein Delphin sein, der seine Kreise um den Ertrinkenden zieht. Ihn anstupst, zur Wasseroberfläche emporhebt. Gab es das nicht immer wieder in der Geschichte der Menschen auf dem Meer, dass Delphine sich zu ihnen gesellten? Einen ertrunkenen Wald. Nie gesehen. Vielleicht am Grund von Stauseen. Geisterhafte Schemen, in denen die Netze der Fischer sich verfangen. Aber am Grund des Meeres? Ich weiß nicht, ob du selbst es bemerkst, doch deine Schritte greifen weiter aus. Fast scheint es, als wärest du ungeduldig, den Fortgang der Geschichte im nächsten Bild zu erfahren.
„Woher kennst du den Wald, woher den Baum?“ Den alten Mann verwunderte weder der Anblick des Meerwesens, noch, dass er sich ihm antworten hörte. Sank er doch mit ausgebreiteten Armen dem Meeresgrund zu und war im Begriff zu sterben.
„Ich habe dir zugehört, deinen Gedanken, und ich weiß an meinem Grund einen alten Wald liegen, alter Mann.“ Die transluzierend blassblaue Gestalt schien über große Kräfte zu verfügen, denn sie hielt den Körper des Alten in der Schwebe. Er fühlte sich nicht mehr sinken und doch fühlte er sich durch die Macht des Wesens bewegt.
„Kein Wald kann am Grunde des Meeres bestehen.“
„Und wenn ich es dir doch sage“, schüttelte das Meerwesen bedächtig den Kopf. „Er ist sehr alt, ertrunken. Und doch wiegt er sich im meiner Strömung und gibt von den Tagen preis, an denen er noch weit von mir grünte, was auch immer er damit meint, und das Licht der Sonne einfing.“
„Das Licht der Sonne?“
„Komm, ich zeige dir den ertrunkenen Wald, alter Mann.“