Bello begleitete mich auf meinen Streifzügen über die Insel und auf dem Ozean. Ich gewöhnte ihn an das Boot und nahm ihn mit, wenn ich zum Leuchtturm fuhr.
Bei der Frau des Bücherladens bestellte ich zwei Hunde-Ratgeber und versuchte mein Bestes mit dem Tier, was mir zu gelingen schien. Wenn ich die Bilder des Alten katalogisierte oder meine Notizen schrieb, lag er mir zu Füssen und döste.
Er freundete sich mit Lola und den zwei anderen Schafen an. Doch wenn ich ihn nicht im Auge hatte, jagte er sie mit freudigem Gebell aus dem Stall und trieb sie auf der Weide vor sich hin.
Ich war ihm zum ersten Mal kurz nach seiner Geburt begegnet, als er noch ein hilfloser Welpe war. Bello war der schwächelnde Zweite, den die Hündin des Schafbauern im Sommer geboren hatte.
Früher hatte ich mir oft einen Hund gewünscht, mich aber stets vor der Verantwortung gescheut. Als mich der Schafbauer jedoch vor wenigen Wochen fragte, ob ich das Tier aufnehmen möchte, sagte ich ohne zu zögern ja und richtete dem Hund einen Schlafplatz vor dem Kamin ein. Im Sommer würde er draussen bei den Schafen bleiben.
Die Insel war den Winterstürmen untertan geworden – die Fähre fuhr nur noch jeden zweiten Tag und brachte wenige Besucher mit. So legte sich, wenn der Nordwind die Wellen nicht über die Klippen schlagen liess, eine ungewohnte Stille über den Ort. Bei Ebbe zog sich das Meer weit zurück: Die Fischerboote lagen für Stunden auf dem Trockenen, bevor die Flut sie wieder aufhob.
Ich spürte seine Angst, dass ich der Insel im Winter nicht gewachsen sein könnte. Nur fürchtete ich mich weder vor den Stürmen, welche die Schafe in das warme Dunkel des Stalles trieben, noch vor der Stille.
Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, das Haus des Alten noch nicht zu verkaufen, dachte ich über mein eigenes auf dem anderen Kontinent nach und freundete mich mit der Vorstellung an, auf unbestimmte Zeit auf der Insel zu bleiben.
Natürlich vermisste ich meine Freunde, doch hatten wir schon immer nur wenig persönlichen Kontakt zueinander gepflegt. Wir schrieben uns und würden es auch weiterhin tun. Ich spürte, dass es mir nicht schwerfallen würde, mein mir fremd gewordenes Leben in der Ferne loszulassen.
Seit ich auf der Insel war, hatte sich vieles verändert. Ich hatte mir eine neue Realität erschaffen – eine, die mir gefiel.
Ich hatte selten unter dem Zwang gelitten, mir zu überlegen, wie ich meine Zeit verbringen würde. Wenn ich nicht schlief oder schrieb, beobachtete ich.
Doch jetzt war ich eine Genesene auf einer kleinen, immergrünen Insel mitten im Ozean. Genesen von einer Krankheit, die mein Gedächtnis und meine Fantasie aufs Schlimmste bedroht hatte.
Ich beobachtete nach wie vor, doch das Einzige, was ich schrieb, waren diese Notizen, die ich nach und nach ins Reine brachte. Eine Arbeit, die mich schnell ermüden liess. Darum begann ich, als sich der Winter langsam über die Insel legte, seine Bilder zu katalogisieren. Stundenlang sass ich im Atelier, fotografierte sie und ordnete alle neu nach dem Datum, welches er sorgfältig mit einem feinen Pinsel auf der Rückseite angebracht hatte. Dann verfasste ich zu jedem Bild eine kleine Geschichte, die einzig und allein meiner Fantasie entsprang.
Ich hatte mich mit dem Sohn des Krabbenfischers im Hafen-Café verabredet, um über das Angebot des Maklers zu sprechen. Draussen tobte ein Sturm, dessen Vorläufer schon seit Tagen auf der Insel spürbar gewesen waren. Jetzt warfen sich die vom Wind gepeitschten Wellen gegen die Hafenmauer und hinterliessen eine Gischt, die wütend nach der Insel griff.
Die Fähre würde heute nicht mehr fahren. Ich war der einzige Gast.
Durch das Fenster beobachtete ich, wie er in seinem Ölzeug in meine Richtung eilte. Als er mich sah, hob er kurz die Hand und lächelte. Ich konnte das Haus nicht verkaufen.
Ich erwachte, aufgeschreckt von den Bildern, die gewaltsam in meinen Schlaf eindrangen. Die Träume waren schlimmer geworden: Ich sass im Boot des Alten, mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Das Blau des Himmels verschmolz mit dem Blau des Ozeans und aus meiner Kehle drangen konturlose Laute, die keiner hören konnte. Ich war verloren.
An diesem Morgen vereinbarte ich mit dem Schafbauern, dass Lola und die anderen Schafe bis im Frühjahr bei mir bleiben konnten.
Später rief der Makler an – er hatte einen Käufer für das Haus gefunden.
Heute denke ich oft, dass alles, was auf der Insel geschehen war, Teil eines grösseren Plans gewesen war. Und dass der Alte diesen Plan für mich gemacht hatte. Natürlich weiss ich, dass das nicht stimmt, nicht stimmen kann.
Ich glaube nicht an das Schicksal, genauso wenig an die Deutung zufälliger Geschehnisse. Was einem unerwarteterweise zufällt, das passiert einfach. Man kann sowohl dem zufälligen wie auch dem schicksalhaften Ereignis jedwede Bedeutung geben. Eine wird am Ende immer passen.
Ich begleitete ihn erneut auf seinem Boot. Schweigend fuhren wir der Sonne entgegen und tranken Kaffee, den ich für uns vorbereitet hatte. Auch heute folgten uns die Möwen, doch fehlte auch heute von Fräulein Mö jede Spur.
Die Ruhe, die er ausstrahlte, seine sorgfältig geformten Sätze und die Leidenschaft, mit der er seine Arbeit erledigte, hatten eine grosse Wirkung auf mich. Es kam zu der ersten Berührung, die nicht per Zufall erfolgte.
In dieser Nacht hatte sich auch der Nordwind auf den Weg gemacht. Das Meer war unruhig geworden. Der Winter rührte an der Insel.
Wir erzählten uns unsere Geschichten. Er sprach von seiner Ehe, die in die Brüche gegangen war, weil die Frau das Leben auf der Insel nicht mehr ausgehalten hatte. Und von den Menschen, die geblieben waren.
Es war das erste Mal, dass ich meine Angst in Worte fassen konnte. Die Angst, dass ich die Fähigkeit, Geschichten zu schreiben, verlieren würde. Spät, als die Sonne bereits untergegangen war, sprach ich von der Zeit, in welcher der Alte uns verlassen hatte. Erinnerungen an eine Kindheit, die schön und schmerzhaft zugleich gewesen war.