Eine Veränderung fand statt. Die Temperaturen stiegen an, die Zahl der Tagestouristen nahm zu, die Wildblumen begannen zu blühen und der immergrüne Teppich, der die Insel überzog, wurde heller. Ich begann die Menschen zu mögen.
Der Sohn des Krabbenfischers warf seine Körbe jetzt täglich aus – die frischen Krabben verkauften sich gut.
Fräulein Mö blieb in der Nähe des Hauses. Ich baute ihren Unterschlupf aus und beschäftigte mich vermehrt im Garten. Auch meine Geschichte nahm langsam Fahrt auf.
Der Sommer war da und die Insel bereitete sich für das Schafrennen vor.
Ich holte eines der Tagebücher hervor, schlug es in der Mitte auf, betrachtete die in der schwungvollen Handschrift des Alten hingeschriebenen Worte, die mein Bewusstsein jedoch nicht erreichen konnten. Schnell legte ich das Buch in sein Versteck zurück.
Später besuchte mich der Sohn des Krabbenfischers und brachte mir Fisch für Fräulein Mö. Er erzählte mir von den gemeinsamen Erlebnissen mit dem Alten. Wie der Alte beim Anlanden ins Wasser gefallen war, weil er sich im Seil eines Fangkorbs verheddert hatte. Oder, wie die Möwe jeweils auf dem Dach des Bootshauses auf sie gewartet hatte. Und von dem Tag, an dem der Alte seine Krankheit nicht mehr vor ihm verbergen wollte.
Während der nächsten Tage ereignete sich wenig und ich ging meiner Routine nach, kaufte ein und erkundete die Insel. Dann begann ich, das Hafen-Café regelmässig zu besuchen. Das Beobachten der fröhlichen Hektik, die von den ankommenden Tagestouristen ausging, tat mir gut. Auch die leisen Drohungen meines Agenten schienen für einmal hilfreich gewesen zu sein: Ich schrieb.
Am späten Nachmittag sass ich jeweils vor dem Haus und las oder sprach mit Fräulein Mö, die sich als aufmerksame Zuhörerin erwies. Während ich ihr meine Geschichten erzählte, stolzierte sie über die Wiese und beäugte mich neugierig. Las ich in einem Buch, wagte sie sich etwas näher an mich heran.
Irgendwann in dieser Zeit rang ich mir auch die aufgeschobenen Telefonate mit den Maklern vom Festland ab. Es ergab sich keine Sympathie und ich hielt mich bedeckt, weil ich nicht wollte, dass die Inselbewohner von meinen Plänen erfuhren – sie hatten den Alten gemocht.
Doch trotz aller Geschäftigkeit schaffte ich es nicht, mich von den Tagebüchern in der Eckbank abzulenken. Der Alte verlangte nach mir..
Fräulein Mös zarte Knochen heilten schnell. Nachdem wir ihr vor dem Haus den Verband abgenommen hatten, spannte sie die Flügel, bewegte diese ein paar Mal auf und ab und machte einen Flugversuch, der ihr auf Anhieb gelang, wenngleich der gebrochene Flügel etwas schief hing. Wenig später stand sie auf dem Dach des Ateliers und beobachtete uns. Dann hob sie erneut ab, drehte eine Runde über das Grundstück und kehrte zu ihrer Behausung zurück.
Ich hatte eine Freundin gefunden.
Ich war Ende vierzig, als ich auf die Insel kam, und ich war nirgendwo verwurzelt. Mein Haus auf dem anderen Kontinent hatte ich für die Dauer meiner Inselzeit einem Freund überlassen. Ich kam aus einer gescheiterten Familie und hatte mehrere gescheiterte Beziehungen hinter mir. Und ich war eine erfolgreiche Autorin, die der Realität zuweilen wenig Bedeutung zumass. Es gab Zeiten, in denen ich nicht fühlte.
Mein erster Impuls, als ich die Tagebücher gefunden hatte, war, sie in ihr Versteck zurückzulegen und sie zu vernichten, sobald ich die Insel wieder verlassen würde.
Doch tat ich weder das eine, noch das andere, und heute sind sie mir zu treuen Begleitern geworden. Genauso wie der Sohn des Krabbenfischers, dem ich lange nichts von den Büchern erzählt hatte.
Er hatte sein Leben mit blauer Tinte festgehalten und die Tagebücher in der Eckbank versteckt. In einem abschliessbaren Hohlraum, auf dessen Klappe ich seit meiner Ankunft jeden Tag gesessen hatte.
Ich weiss nicht mehr wie lange ich dort gestanden und die Bücher angestarrt hatte, bevor ich damit begann, sie aus ihrem Versteck zu heben, um sie nach Jahrgang sortiert vor mir auf den Tisch zu legen.
Den ersten Eintrag, den ich fand, hatte der Alte vor sechsundzwanzig Jahren gemacht, kurz bevor er auf die Insel gezogen war. Ich las ihn nicht.
Draussen erzählte ich Fräulein Mö von meinem Fund. Genau wie der Alte damals hatte auch ich mich an ihre Gesellschaft gewöhnt. Sie hatte sich gut erholt. In wenigen Tagen würde ich sie von ihrem Verband befreien können.
Die wenigen Einheimischen, mit denen ich in Kontakt kam, begegneten mir freundlich und zurückhaltend. Ich wusste, dass sie über mich sprachen. Doch stellten sie keine Fragen. Das änderte sich, nachdem der Postbote die Nachricht verbreitete, dass die einbeinige Möwe zum Haus des Alten zurückgekehrt war.
Die Besitzerin des Hafen-Cafés war klein und rund. Sie hatte ein freundliches, rosiges Gesicht. Es war mein erster Besuch und sie sprach mir ihr Beileid aus. Danach erkundigte sie sich, ob ich mich gut einlebte und sich der Sohn des Krabbenfischers gut um mich kümmerte. Ich bejahte. Dann fragte sie nach der Möwe. Sie hörte mir aufmerksam zu, als ich ihr die Geschichte erzählte. Sie hätte noch weitere Fragen gehabt. Ich war dankbar dafür, dass sie sich diese nicht zu stellen traute.
Nachdem ich mir zu Hause diese Begegnung im Café notiert hatte und erneut lustlos vor meinem Manuskript sass, rief ich meinen Agenten an. Ich würde den Zeitplan nicht einhalten können. Dann nahm ich den Schlüssel hervor und betrachtete ihn lange. Ich wusste, dass er nicht zu meinen Türen gehörte.
Die nächsten Tage versuchte ich eine Routine: Im Morgengrauen stand ich auf, fütterte Fräulein Mö, lief über die Insel oder fuhr mit dem Fahrrad herum.
Danach setzte ich mich ins Atelier vor das Manuskript. Ich korrigierte, schrieb Fragmente neuer Sätze nieder, strich diese wieder durch, zwang mich zum Nachdenken, verweigerte mich diesem Zwang und schaute Fräulein Mö dabei zu, wie sie auf dem Wasser schlief oder geduldig in einer Ecke sass. Ich war blockiert.
Die Vormittage verstrichen und die Nachmittage auch. Ich lenkte mich mit der Suche nach einem Makler ab und studierte die Unterlagen, die mir der Alte in einem Karton hinterlassen hatte. Grundstückpläne, Verträge, Akten, er hatte alles sorgfältig aufbewahrt. Und dann passierten zwei Dinge zur gleichen Zeit: Der Postbote entdeckte Fräulein Mö in meinem Garten und ich fand am Boden des Kartons einen Schlüssel.
Ich hob das Loch neben dem Atelier aus. Um den Rand legte ich Steine, die ich aus der Gartenmauer nahm. Die Wanne, die der Alte für das Schwimmbecken verwendet hatte, fand ich in einer Ecke des Schafstalls. Der Sohn des Krabbenfischers hatte sie aufbewahrt. Vermutlich weil er ahnte, dass die alte Möwe eines Tages zurückkehren würde. Auch der Holzsteg war noch da.
Als ich mit dem Bau von Fräulein Mös Bad fertig war, brachte der Sohn des Krabbenfischers Fisch und eine Art Behausung, die er aus Netzen und Fangkörben gefertigt hatte. Gemeinsam füllten wir die Wanne mit Wasser auf und machten die Behausung fest. Den Fisch legte ich in eine Schale, die ich neben das Bad stellte. Dann holten wir Fräulein Mö aus ihrem Krankenbett und legten sie in ihr neues, sicheres Zuhause.
Sie blieb eine Weile schwer atmend auf dem Boden sitzen. Dann versuchte sie sich aufzurichten, verlor aber das Gleichgewicht und fiel auf die Seite. Sie versuchte es weitere Male, und wir waren bereits in grosser Sorge, als sie es doch noch schaffte. Sie hüpfte in das Schwimmbecken und blieb. Später sass sie in einer Ecke ihrer neuen Behausung. Die Fischstücke waren verschwunden.
Jetzt hatte ich nicht nur ein Haus zu verkaufen und einen Roman zu beenden, sondern auch eine alte, verletzte Möwe zu pflegen.
Schon als Kind hatte ich stets die Nähe zu den Tieren gesucht. Und dass mich ihr Schicksal bisweilen mehr berührt, als dasjenige der Menschen, ist mir auch heute noch oftmals unangenehmen. Ich hatte mich damals gerne in diese Welt zurückgezogen, in der ich mit den Tieren kommunizierte. Und die Geschehnisse in dieser Welt liegen den Geschichten zugrunde, die ich später, als Erwachsene, in meinen Büchern niederschrieb.
Das meine Romane erfolgreich wurden überraschte mich. Nie hätte ich damit gerechnet, dass der moderne Mensch sich auf eine solch phantastische Reise begeben wollte. Und nie hätte ich damit gerechnet, dass mir die Tiere aus meinen Geschichten einmal tatsächlich begegnen würden. Doch was erzähle ich da, schon wieder weiche ich von meinen Prinzipien ab?