Das angefangene Manuskript lag auf der Kiste, in der ich die Tagebücher des Alten aufbewahrte. Als ich an einem regnerischen Morgen Ende Dezember erneut danach griff, gab auch der Widerstand gegenüber den Tagebüchern nach. Ich legte das Manuskript zur Seite, holte eines der Bücher hervor, schlug es vorne auf und begann zu lesen.
Nach dem ersten Drittel legte ich das Buch auf den Boden und holte das nächste hervor. So las ich kreuz und quer durch mehrere Bücher, ausgehungert nach seinen Erzählungen und realisierte, dass ich mich in jeder seiner Geschichten wiederfand.
Ich fühlte mich wohl in meiner neuen Routine. Die langen Spaziergänge mit Bello, die regelmässigen Besuche des Hafen-Cafés, die Ausfahrten mit dem Boot zum Leuchtturm, – wenn der Nordwind sie zulassen sollte – und die Arbeit am Katalog. Ich begann, mich mit der Insel und ihren Bewohnern zu verbinden, sie waren mein neues Zuhause geworden.
Und auch wenn ich unbewusst auf einen weiteren Schicksalsschlag zu warten schien, verspürte ich diese neuen, kurzen Momente des Glücks.
Die Albträume wurden weniger. Wenn mich trotzdem einer mit rasendem Herzen aus dem Schlaf schreckte, blieb ich lange im Dunkeln sitzen und hörte dem Hund zu, der in seinen Träumen oft leise winselte.
Meine Gedanken wurden klarer, doch die Flecken auf meinem Gedächtnis waren geblieben. Genauso wie der Sog, der von den Tagebüchern des Alten ausging, die in der Kiste im Atelier lagen.
Bello begleitete mich auf meinen Streifzügen über die Insel und auf dem Ozean. Ich gewöhnte ihn an das Boot und nahm ihn mit, wenn ich zum Leuchtturm fuhr.
Bei der Frau des Bücherladens bestellte ich zwei Hunde-Ratgeber und versuchte mein Bestes mit dem Tier, was mir zu gelingen schien. Wenn ich die Bilder des Alten katalogisierte oder meine Notizen schrieb, lag er mir zu Füssen und döste.
Er freundete sich mit Lola und den zwei anderen Schafen an. Doch wenn ich ihn nicht im Auge hatte, jagte er sie mit freudigem Gebell aus dem Stall und trieb sie auf der Weide vor sich hin.
Ich war ihm zum ersten Mal kurz nach seiner Geburt begegnet, als er noch ein hilfloser Welpe war. Bello war der schwächelnde Zweite, den die Hündin des Schafbauern im Sommer geboren hatte.
Früher hatte ich mir oft einen Hund gewünscht, mich aber stets vor der Verantwortung gescheut. Als mich der Schafbauer jedoch vor wenigen Wochen fragte, ob ich das Tier aufnehmen möchte, sagte ich ohne zu zögern ja und richtete dem Hund einen Schlafplatz vor dem Kamin ein. Im Sommer würde er draussen bei den Schafen bleiben.
Die Insel war den Winterstürmen untertan geworden – die Fähre fuhr nur noch jeden zweiten Tag und brachte wenige Besucher mit. So legte sich, wenn der Nordwind die Wellen nicht über die Klippen schlagen liess, eine ungewohnte Stille über den Ort. Bei Ebbe zog sich das Meer weit zurück: Die Fischerboote lagen für Stunden auf dem Trockenen, bevor die Flut sie wieder aufhob.
Ich spürte seine Angst, dass ich der Insel im Winter nicht gewachsen sein könnte. Nur fürchtete ich mich weder vor den Stürmen, welche die Schafe in das warme Dunkel des Stalles trieben, noch vor der Stille.
Er solle aufpassen, dass er vom Wind nicht mitgenommen werde, warnt ihn der Herr an der Küste. Joven belehrt ihn, dass er zu wenig Angriffsfläche für den Wind habe. Wagt es aber nicht den Herren zu warnen, der sollte doch selber genug Erfahrung haben.
Ich hatte selten unter dem Zwang gelitten, mir zu überlegen, wie ich meine Zeit verbringen würde. Wenn ich nicht schlief oder schrieb, beobachtete ich.
Doch jetzt war ich eine Genesene auf einer kleinen, immergrünen Insel mitten im Ozean. Genesen von einer Krankheit, die mein Gedächtnis und meine Fantasie aufs Schlimmste bedroht hatte.
Ich beobachtete nach wie vor, doch das Einzige, was ich schrieb, waren diese Notizen, die ich nach und nach ins Reine brachte. Eine Arbeit, die mich schnell ermüden liess. Darum begann ich, als sich der Winter langsam über die Insel legte, seine Bilder zu katalogisieren. Stundenlang sass ich im Atelier, fotografierte sie und ordnete alle neu nach dem Datum, welches er sorgfältig mit einem feinen Pinsel auf der Rückseite angebracht hatte. Dann verfasste ich zu jedem Bild eine kleine Geschichte, die einzig und allein meiner Fantasie entsprang.